Carola bekam ihr Problem nicht in den Griff. Kompetent und ehrgeizig, war sie seit zwei Jahren da, wo sie immer sein wollte: sie führte ein kleines Team von Marketingexperten und gemeinsam entwarfen sie Marketingstrategien für eine der wichtigsten Produktlinien des Unternehmens. Doch dann geschah es ihr immer häufiger, dass sie vor einem wichtigen Termin erkrankte. Ihr Vorgesetzter wollte sie bei einem Strategiemeeting dabeihaben – wunderbar! Doch am Morgen des anberaumten Meetings wurde ihr so übel, dass sie zuhause bleiben musste. Sie sollte dem Vorstand die Marketingstrategie für die EMEIA-Region präsentieren – und lag stattdessen mit Übelkeit und Kopfschmerzen zuhause.
Was unterdrückt wird, drängt nach oben
Unterdrückte Gefühle, auch Frozen Feelings genannt, beeinflussen uns mehr als wir gemeinhin denken. Denn das, was wir wegdrücken wollen, ist nicht wirklich weg. Es meldet sich aus unserer Tiefe, auch dann, wenn wir es am wenigsten brauchen können.
Und wenn ein Mensch beruflich in einer Krise ist, z. B. weil er sich seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen fühlt, bestimmte Situationen bei ihm heftige emotionale Reaktionen auslösen, er immer wieder in Konflikte involviert ist, lohnt es sich, die gesamte Lebensgeschichte zu betrachten.
Unterdrückte Gefühle, auch Frozen Feelings genannt, beeinflussen uns mehr als wir gemeinhin denken. Denn das, was wir wegdrücken wollen, ist nicht wirklich weg. Es meldet sich aus unserer Tiefe, auch dann, wenn wir es am wenigsten brauchen können. Und wenn ein Mensch beruflich in einer Krise ist, z. B. weil er sich seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen fühlt, bestimmte Situationen bei ihm heftige emotionale Reaktionen auslösen, er immer wieder in Konflikte involviert ist, lohnt es sich, die gesamte Lebensgeschichte zu betrachten. In der Biografiearbeit stößt man dabei manchmal auf die ganz großen Themen – wie Tod, Trennung, ein dramatischer Unfall – und ihre Folgen. Oft findet man aber nicht das eine dramatische Ereignis, sondern einfach eine ungünstige Konstellation in der Familie oder im Umfeld. Und manchmal ist es auch nur eine ganz normale Nachkriegsfamilie, die mit Aufbau und Wohlstandssicherung beschäftigt war, sodass die nächste Generation, die Babyboomer und die Generation X, mit zu wenig Zuwendung und Wertschätzung aufgewachsen ist. Biografiearbeit stellt eine Verbindung her zwischen den schwierigen auslösenden Situationen der Gegenwart und früheren Erfahrungen. In dem Moment, wo ein Mensch diesen Zusammenhang nachvollziehen kann, beginnt die Aufarbeitung und Heilung.
Der Wunsch nach Bindung und Autonomie steckt in uns allen
Je positiver die Bindungserfahrungen sind, die ein Mensch gemacht hat, desto leichter fällt ihm die Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter. Und je mehr ein Mensch erfahren hat, dass er seinen Interessen folgen und ein Individuum werden darf, desto selbstbewusster geht er später durchs Leben, und desto mehr unterstützt er andere darin, ebenfalls erfolgreich zu sein. Doch oft ist einer der beiden Faktoren – oder sogar beide – nicht gegeben. Daniel Kahneman’s zentrale Erkenntnis, für die er im Jahr 2002 den Nobelpreis für Wirtschaft bekam, besagt, dass die meisten unserer Entscheidungen irrational sind, beeinflusst von Bisases und Vorerfahrungen, die uns nicht bewusst sein. Vieles davon lässt sich aus der Lebensgeschichte ableiten, vieles erklärt sich auch durch den Zeitgeist und unsere Neigung zu Gruppendenken: die Meinung der anderen bzw. der Mehrheit wird zur Richtschnur.
Durch konsequentes Erforschen unserer Gedanken, Gefühle und Vorurteile kann es uns immer mehr gelingen, klarer zu denken, unsere Gefühle wahrzunehmen, ohne von ihnen hinweggeschwemmt zu werden, und kluge Entscheidungen zu treffen. Carola konnte nach und nach Strategien entwickeln, das kleine Kind in ihr vor herausfordernden Situationen zu beruhigen. Indem sie ihr Leben verstand, konnte sie es gestalten. Nach und nach überschrieb sie die alte Strategie mit neuen Möglichkeiten. Sie wendete sich dem Schmerz von damals zu, dadurch wurde sie frei für die Anforderungen der Gegenwart. Eine Reihe von Entspannungsübungen (Meditation, Autogenes Training, positive Affirmationen) halfen zusätzlich. Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass es sehr lohnend ist, Zusammenhänge zu erkennen und nicht nur auf die Zukunft ausgerichtete neue Verhaltensoptionen zu erarbeiten. Denn das greift zu kurz, und wird von der Seele als oberflächlich und ungenügend empfunden.
Die Familie als erste Gruppe ist immer eine Spur, die man in der Biografiearbeit verfolgen sollte. Auffallend häufig habe ich Menschen im Coaching, die bei nur einem Elternteil groß geworden sind, sei es durch Tod oder durch Scheidung. Und auch nach einer Scheidung hatten die Kinder von damals manchmal nur Kontakt zu einem Elternteil, insbesondere in der Generation der Babyboomer und Generation X. Diese für das Kind dramatischen Lebensgeschichten haben Auswirkungen bis in die Gegenwart.
Andere Coaching-Anlässe, die eine Biografiearbeit nahelegen, sind Migration (als Kind oder Erwachsene), Mobbing, ein weit eskalierter Konflikt, ein kritisches 360 Grad Feedback, extreme Veränderungen im Unternehmen. Biografiearbeit kann aber auch hinsichtlich des Ausleuchtens des Erwachsenenlebens sinnvoll sein. Sie kann helfen, die Erfahrungen eines Menschen in seinen Peer Groups – Schule, Studium, frühere Arbeitssituationen – bearbeitbar zu machen und deren Einfluss auf die Gegenwart zu verstehen. Denn auch wenn die Ereignisse weniger dramatisch sind, lassen sich Reaktionsmuster eines Menschen, z. B. bei umfassenden Veränderungsprozessen, besser verstehen. Mit dem Verstehen besteht die Chance zu einer Erweiterung des Verhaltensrepertoires. Manchmal wird auch klar, dass jemand sich ein anderes Umfeld suchen will oder eine andere Position anstrebt, die besser zum ihm und seinen Stärken sowie Möglichkeiten passt.
Organisationen haben Verträge mit Menschen, nicht mit Arbeitnehmern
Bei all den ambitionierten Strategien und Veränderungsvorhaben, bei all den Transformationen, die derzeit Hochkonjunktur haben – die Entwicklung und Umsetzung dieser Vorhaben wird von Menschen gemacht. Unternehmen tun gut daran, dies immer mitzudenken. Täglich kann ich beobachten, wie schnelle und gravierende Veränderungen Menschen seelisch und emotional an ihre Grenzen bringen. Denn deren individuellen Strategien, die sie entwickelt haben, um ihr inneres Erleben mit den Anforderungen am Arbeitsplatz auszubalancieren, greifen plötzlich nicht mehr. Ich vermute, dass dies auch eine der Hauptursachen für Widerstand gegen Veränderung ist. Es ist die Reaktion eines Menschen auf eine vom Vertragspartner (Unternehmen) vorgenommene Änderung, die als unannehmbar erlebt wird.
So ist z. B. eine der (unerwünschten!) Nebenwirkungen bei der Einführung von Scrum eine durch Führung nicht in Bahnen gelenkte Gruppendynamik, die starke Persönlichkeiten dominieren lässt, und zurückhaltende oder sensible Menschen ins Abseits drängt.
Im Change muss es deshalb darum gehen, die Frozen Feelings (Widerstand!) der Beteiligten zu erkennen und Möglichkeiten der Aufarbeitung bzw. Weiterentwicklung anzubieten. Immer mehr setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass Change von Anfang an von den Beteiligten gestaltet werden muss, um das Gefühl der Ohnmacht gar nicht erst aufkommen zu lassen. Bei einer Gestaltung des Change durch die Beteiligten können in allen Phasen des Change Prozesses neue Strategien des Ausbalancierens von innerem Erleben und Anforderungen des Arbeitsplatzes erarbeitet werden. In Teamsituationen (Scrum, Projekte etc.) geht es darum, ungünstige Gruppendynamiken schnell zu erkennen und zu verändern.
Mit anderen Worten: neue Arbeitsformen, Veränderungskonzepte oder Transformationen können nur in dem Maße erfolgreich sein, wie es gelingt, mit den beteiligten Menschen einen neuen Vertrag auszuhandeln, der für sie rational und emotional annehmbar ist.
Das Bewusstsein über die Bedeutung einer emotionalen Balance wächst
Die Verantwortlichen in den Unternehmen (Human Resources, Vorgesetzte, BEM-Koordinatoren) werden zunehmend sensibler für seelische Nöte ihrer Kollegen, sei es bei Einzelnen, in Teams oder im Rahmen von Veränderungsprozessen. Kürzlich z. B. hatte ich ein Zielvereinbarungsgespräch für ein Coaching, zusammen mit dem Coachee und dessen Vorgesetztem. Dabei regte der Vorgesetzte ausdrücklich an, auch die privaten Herausforderungen des Mitarbeiters in das Coaching zu integrieren.
Mein professioneller Background wächst mit dieser Arbeit auf wunderbare Weise zusammen. Denn die erste Ausbildung, die ich als angehender Coach in den 90er Jahren gewählt hatte, war die Gestalttherapie. Anschließend habe ich viele business-orientierte Qualifikationen durchlaufen, denn ich wollte ja vorwiegend für Menschen in Unternehmen arbeiten. Also wurde ich Projektmanagerin, Prozessbegleiterin, Change Managerin, Business Coach, Scrum Master. Und nun kommen immer mehr Menschen zu mir, deren seelische Verwundungen sich im Beruf zeigen, und die viel Bereitschaft mitbringen, die großen Themen ihres Lebens zu reflektieren und eine neue emotionale Balance zu finden. Darüber freue ich mich, denn ich kann dazu beitragen, dass diese Menschen ein wenig glücklicher und erfolgreicher werden.
Herzlich,
Gudrun Kreisl
Die Bilder entstanden auf meiner Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau über die Mongolei nach Peking.
*Name geändert
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