Wie verändert die Umstellung auf innovative Organisationsformen die Führung? Und was bedeutet es, wenn gleichzeitig mit der Einführung neuer Strukturen Kostensenkungen, Entlassungen oder sogar Standortschließungen auf der Agenda der Unternehmensführung stehen?
Gar nicht so wenige Führungskräfte erleben derzeit quasi im Zeitraffer die Licht- und Schattenseiten von Globalisierung, Digitalisierung und Industrie 4.0. Sie müssen Mitarbeiter entlassen und gleichzeitig virtuelle Teams an Nearshore- oder Offshore-Standorten aufbauen. Sie erleben mit, wie ein sich rasant verändernder Markt das Geschäftsmodell ihres Unternehmens disruptiv überholt. Sie kämpfen um Marktanteile und ringen um Innovationen, die sie den Bedrohungen des Marktes entgegensetzen wollen. Interne Funktionen, wie z. B. Controlling, Einkauf oder Human Resources, sehen sich neuen Anforderungen des Top Managements gegenüber. Sie sollen sich vom Verwalter zum Dienstleister ihrer internen Kunden entwickeln, und die Selbstorganisation und Effizienz ihrer Teams vorantreiben.
Dabei haben viele Führungskräfte den Eindruck, dass ihre bisher angewandten Managementtools nicht mehr taugen für die tägliche Führungsarbeit. Es ist als ob sie „zurück auf Null“ gehen und wieder (ganz) von vorne anfangen. Und so falsch ist der Eindruck gar nicht, denn derzeit muss in der Führung vieles verlernt werden, damit Platz wird für ein neues Führungsverständnis.
„Die Schwierigkeit ist nicht neue Ideen zu finden, sondern den alten zu entkommen…“ sagte schon John Maynard Keynes. Insofern ist die Einsicht, zurück auf Null geworfen zu sein, vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung. Das ist nur leider sehr schwer auszuhalten. „Lebenslanges Lernen ist ein absolutes Muss“, meint Rainer Strack, Personalexperte bei BCG, und weiter: „Managern fällt es besonders schwer, diesen Schritt nicht nur anderen zu predigen, sondern auch selbst zu beherzigen. Wer 30 Jahre in der analogen Welt Karriere gemacht hat, kann sich oft nur schwer für den Gedanken begeistern, in den Schülermodus zurückzukehren.
“Führungskräfte durchlaufen also ihren ganz eigenen Veränderungsprozess, und sind gleichzeitig gefordert, ihren Mitarbeitern Sicherheit und Orientierung zu geben. Wie kann dieser Spagat gelingen, und wie können Manager in solchen Situation glaubwürdig bleiben? Was kann Führungskräften in solchen Zeiten Halt und Orientierung geben, damit sie mutig und selbstbewusst in die Zukunft gehen? Damit sie ihren Mitarbeitern das Maß an Sicherheit geben, das diese brauchen auf dem Weg zu mehr Agilität, Selbstorganisation und Kundenorientierung?
Erfahrungen aus mehreren Projekten zeigen: Wenn Führungskräfte wissen, wie sie auch in komplexen Situationen den Überblick behalten und handlungsfähig bleiben, wenn sie sich öffnen für Innovationen und Veränderung, und wenn sie Lernen sowie persönliche Weiterentwicklung als Teil ihrer Managementaufgabe sehen, werden sie gelassener und wirkungsvoller.
„Und was hilft mir diese Erkenntnis“, fragen Sie vielleicht an dieser Stelle, „wie kann ich davon etwas anwenden in meinem täglichen Führungshandeln?
Hier sind einige bewährte „How to’s“:
1. Komplexität managen
Arbeiten Sie mit Analysetools, die
- der Komplexität Ihrer Führungssituation gerecht werden
- einen fundierten Überblick geben über Ihre relevanten Themen
- sinnvolle Schwerpunktsetzungen ermöglichen
Bewährt hat sich z. B. eine Analyse anhand der vier Rollen Intrapreneur, Leader, Netzwerker, Innovation und Change Manager (siehe Abb. 1). Analysieren Sie diese Rollen für Ihren Verantwortungsbereich, clustern und nehmen Sie entsprechende Priorisierungen vor. Nun wissen Sie, auf welche Themen Sie bisher zu wenig Augenmerk gelegt haben, und wie Sie die Rollen zukünftig abdecken können. Damit werden Sie sofort wirkungsvoller – denn jeder Manager hat vernachlässigte Themen in seinem Führungshandeln. Nur, wenn Sie jede Rolle abdecken, entfalten Sie als Manager optimale Wirkung.
Ein anderes Tool zur Analyse komplexer Situationen ist die Stakeholderanalyse. Damit erkunden Sie, welche Personen in einer bestimmten Thematik welchen Einfluss haben, und wie Sie selbst Ihren Einfluss vergrößern können. Scheinbar aussichtslose Situationen werden damit zu handhabbaren Herausforderungen. Man muss nur wissen, wo der größte Hebel ist.
2. Das Neue geht nicht mehr weg!
Agilität, mehr Demokratie, Selbstorganisation und mehr Kundenorientierung werden nicht mehr von der Bildfläche verschwinden, sie haben ihren Siegeszug durch die Institutionen längst angetreten. Führungskräfte tun deshalb gut daran, sich mit den neuen Organisationsprinzipien intensiv auseinanderzusetzen. Es geht darum, zu verstehen, welche Änderungen für den eigenen Verantwortungsbereich sinnvoll sind. Auch hier müssen Führungskräfte konsequent bisher Gewohntes verlernen, um Platz für das Neue zu machen.
3. Lernen und Retrospektiven bieten ungeahnte Chancen
In der agilen Organisation bietet insbesondere die Bedeutung von Retrospektiven, das Lernen aus Fehlern und eine Verpflichtung zu permanenter Optimierung großes Entwicklungspotenzial für Teams und Organisationen. Dies aber setzt persönliche Reife voraus sowie die Fähigkeit, sich mit eigenen Fehlern konstruktiv auseinanderzusetzen. Diese Reife gilt es zu entwickeln, denn in unserer Kultur ist es alles andere als selbstverständlich, sich Fehler einzugestehen, Feedback als Chance zur Weiterentwicklung zu verstehen und die Kränkung, die oftmals damit einhergeht, allmählich aufzulösen.
4. Nichts geht mehr ohne Innovation Management und Change Management
Innovation Management und Change Management – mittlerweile Klassiker in der Managementlehre – haben in den letzten Jahren eine völlig neue Aktualität bekommen. Dazu gibt es mittlerweile eine Fülle an Verfahren und Werkzeuge. Diese gilt es zu erproben und anzuwenden.
5. Entwickeln Sie eine innere Unabhängigkeit und Stabilität
Es braucht viel innere Unabhängigkeit, um so viele Routinen hinter sich zu lassen und all das Neue anzuwenden. Dazu ist es hilfreich, wenn Führungskräfte ihre Kraftquellen kennen. Sie sollten um die Stabilen Zonen1) ihres Lebens wissen, also die Bereiche, die ihnen inneren Halt und Bodenhaftung geben, wenn äußere Sicherheiten wanken. Es geht darum, sich der Werte und Ideen bewusst zu werden, für die man steht, die Handvoll Menschen aufzählen zu können, die immer zu einem stehen werden, Plätze zu haben, die einem Kraft geben, sich des eigenen Gestaltungs- und Einflussbereichs bewusst zu sein und eine Zugehörigkeit zu Gruppen oder Organisationen zu haben. Häufig zeigt sich durch die Beschäftigung mit diesem Thema, dass Menschen viele solcher stabiler Zonen haben, derer sie sich vorher gar nicht bewusst waren. Sie fungieren wie eine feste Burg in Sturm und Unwetter. Menschen, die ihre Halt gebenden Lebensbereiche kennen, können massive Veränderungen und Disruptionen leichter aushalten, und es gelingt ihnen besser, die Chance im Neuen zu sehen.
Neuer Schwung und frischer Wind
Erfahrungen aus mehreren aktuellen Change Projekten zeigen: Viele Veränderungen, die derzeit in den Unternehmen initiiert und umgesetzt werden, stoßen auf große Zustimmung bei Führungskräften und Mitarbeitern. Neuer Schwung und frischer Wind ziehen vielerorts ein. Doch für viele bringen sie neben den Chancen auch Bedrohungen und Unsicherheit mit sich. Beides muss ernst genommen werden, damit der Wandel gelingt. Innere Unabhängigkeit, persönliches Wachstum und zeitgemäße Managementtools sind wie Leuchttürme, die den Weg weisen, auch wenn es Nacht ist und die Wogen sich scheinbar endlos türmen. Welche Erfahrungen machen Sie mit Industrie 4.0 und der neuen Arbeitswelt?
1) Stabile Zonen von Dr. Roswitha Köngiswieser, siehe Coaching-Tools 2004, Hrsg. Christopher Rauen